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Unaufmerksamkeit als Ursache für Verbraucherpassivität

Viele Verbraucherinnen und Verbraucher sind relativ träge und wechseln ihre Anbieter für Strom, Telefon oder auch ihre Versicherungen in der Praxis deutlich seltener als dies einfache ökonomische Theorien vorhersagen würden. In einer aktuellen Studie haben wir die Ursachen dieser Konsumententrägheit am Beispiel amerikanischer Krankenversicherungen analysiert und festgestellt, dass viele der untersuchten Versicherungsnehmer sich gar nicht aktiv mit der Entscheidung auseinandersetzen. Dies hat nicht nur direkte Konsequenzen für die Konsumenten, sondern auch für die Anbieter und das Funktionieren des Marktes.

von Prof. Dr. Florian Heiß

 

UNAUFMERKSAMKEIT

Klassische ökonomische Theorien gehen in der Regel von rationalen und bestens informierten Konsumenten aus, die Alternativen sorgfältig vergleichen und sich dann für die für sie beste Alternative entscheiden. In der Realität spiegelt dieses Menschenbild die Entscheidungsprozesse aber nicht gut wider. Daher gibt es auch in der ökonomischen Forschung seit vielen Jahren unterschiedlichste Bemühungen, abweichende Verhaltensmuster zu beschreiben, zu untersuchen und die Konsequenzen für die Funktionsweise von Märkten und ihre Regulierung zu diskutieren.

Unsere Studie befasst sich mit Verträgen, die zwar längerfristig laufen, aber prinzipiell regelmäßig kündbar sind. Beispiele sind Versicherungsverträge sowie Verträge für Strom oder Mobilfunk. Diese Verträge werden oft automatisch um ein Jahr verlängert, wenn sie nicht rechtzeitig gekündigt werden. Ein klassischer homo oeconomicus würde nun regelmäßig für all seine Verträge die verfügbaren Alternativen überprüfen, vergleichen und dann das beste Angebot wählen. Auf vielen dieser Märkte zeigt sich aber, dass ein Wechsel zwischen unterschiedlichen Anbietern sehr selten geschieht. Unsere Studie versucht, unterschiedliche Ursachen dafür zu identifizieren und zu quantifizieren:

• Markentreue und individuelle Präferenzen: Ähnlich wie viele Menschen ihrer Automarke treu bleiben, obwohl es kein „Abonnement“ gibt, könnten Konsumenten sich auch einfach immer wieder für den gleichen Versicherungs-, Strom- oder Handyvertrag entscheiden, weil sie die Marke mögen oder weil beispielsweise die Netzabdeckung ihres Mobilfunknetzes in ihrer Umgebung am besten ist.

• Wechselkosten: Auch wenn eine Konsumentin alle notwendigen Informationen über die Alternativen eingeholt hat und feststellt, dass es eine bessere Alternative zu ihrem bisherigen Vertrag gibt, könnte sie sich gegen einen Wechsel entscheiden, weil dieser mit Aufwand (möglicherweise finanzieller, vermutlich aber vor allem zeitlicher Natur) verbunden ist.

• Unaufmerksamkeit: Ein Konsument sammelt gar nicht erst die nötigen Informationen für eine qualifizierte Entscheidung, weil ihm selbst das zu aufwendig erscheint oder weil er schlicht die Kündigungsfrist versäumt hat. Sein Vertrag verlängert sich automatisch, ohne jegliche bewusste Entscheidung.

KONSEQUENZEN

Je nachdem, welche dieser Ursachen in welchem Maß für die geringen Wechselraten verantwortlich sind, kann das unterschiedliche Auswirkungen für die Konsumenten, die Anbieter und die Funktionsweise der entsprechenden Märkte sowie deren sachgerechte Regulierung haben. Wenn Markentreue oder Präferenzen die Hauptursache für geringe Wechselraten sind, wählt jeder Konsument den Vertrag der den eigenen Präferenzen am besten entspricht. Die Anbieter sollten versuchen, die Kundentreue zu fördern und Konditionen anzubieten, die möglichst vielen Kunden attraktiv erscheinen. Es gibt keinen Grund für einen regulierenden Eingriff.

Spielen Wechselkosten eine entscheidende Rolle, so werden viele Konsumenten Verträge haben, bei denen sich ein Wechsel selbst dann nicht lohnt, wenn man nicht hundertprozentig mit seinem Vertrag zufrieden ist. Für Anbieter entsteht der Anreiz, Neukunden mit günstigen Konditionen zu locken und Bestandskunden weniger großzügig zu behandeln, da diese weniger willig sind, zu einem anderen Anbieter zu wechseln. Sie sind durch ihre Wechselkosten gewissermaßen bei ihrem Anbieter „gefangen“. Eine solche Bevorzugung von Neukunden ist in der Praxis häufig zu finden. Der Strommarkt für Haushaltskunden ist hier ein prominentes Beispiel. Die Bindung von Bestandskunden kann dem Wettbewerb abträglich sein, insbesondere wenn es große Anbieter gibt, die möglicherweise sogar eine marktbeherrschende Stellung haben. Um dem entgegenzuwirken, könnte der Gesetzgeber versuchen, die Wechselkosten zu reduzieren, insbesondere wenn diese von den Anbietern bewusst hochgehalten werden. Ein Beispiel für eine solche Maßnahme ist die Rufnummernmitnahme bei einem Wechsel des Mobilfunkanbieters, die erst im Jahr 2002 ermöglicht wurde und für die die Gebühr zuletzt im Jahr 2020 durch die Bundesnetzagentur beschränkt wurde.

Sollte Unaufmerksamkeit ein entscheidender Faktor für geringe Wechselraten sein, könnten die Konsequenzen noch gravierender sein. Die Konsumenten kennen dann noch nicht einmal die Konditionen der unterschiedlichen Alternativen und wissen beispielsweise nicht, wieviel sie bei einem Wechsel sparen könnten. Dies bietet Anbietern noch größeren Freiraum, ihren Bestandskunden schlechtere Konditionen zu bieten. Auf der anderen Seite ist aber auch die Neukundenakquise durch Lockangebote erschwert. Die Reduktion von Wechselkosten durch regulatorische Markteingriffe hat in diesem Fall nicht den erwünschten Effekt, weil die Kunden gar nicht durch zu hohe Wechselkosten an einem Anbieter- oder Tarifwechsel gehindert werden. Vielmehr sind sich die Kunden der Vertrags- und Wechselbedingungen ja gar nicht bewusst. Hier könnten Informationskampagnen helfen oder Dienstleister wie Vergleichsportale, die von sich aus automatisiert Angebote vergleichen und die Kunden rechtzeitig auf Wechselmöglichkeiten hinweisen, z. B. per Email, und „wachrütteln“.

KONKRETE ANALYSEN

In unserer Studie haben wir ganz konkret den US-amerikanischen Markt für Krankenversicherungen für verschreibungspflichtige Medikamente, genannt Medicare Part D, betrachtet. Die Policen werden von privaten Versicherungen angeboten, sind allerdings hoch subventioniert und reguliert. Je nach Wohnort haben die Versicherten die Wahl zwischen durchschnittlich etwa 50 Angeboten, zwischen denen sie jährlich wechseln können. Für unsere Studie hatten wir nun Zugang zu einem großen Datensatz von etwa 10 Mio. Versicherten. Diese haben wir über vier Jahre beobachtet und ihre Wahl der Versicherung und detaillierte Abrechnungsdaten analysiert, die ein sehr genaues Bild des Gesundheitszustandes und der bisherigen und in Zukunft zu erwartenden Leistungen der einzelnen Versicherungen erlaubte. In einer ökonometrischen Analyse nutzen wir einige Besonderheiten dieses Marktes, um die Ursachen für die geringe Wechselbereitschaft zu identifizieren und auch zu quantifizieren.

ERGEBNISSE

Im betrachteten Zeitraum gab es in jedem Jahr erhebliche Änderungen bei den angebotenen Versicherungspolicen sowie deren Prämien. Ein jährlicher Wechsel ist problem- und kostenlos möglich. Diese Möglichkeit nutzen aber im Durchschnitt nur etwa 10 % der Versicherten. Nach unseren Berechnungen geben die Konsumenten durchschnittlich etwa 400 US-Dollar zusätzlich aus, weil sie eine suboptimale Versicherung auswählen.

Die Ergebnisse unserer ökonometrischen Analysen zeigen auch, dass nur ein knappes Drittel der Versicherten überhaupt aufmerksam ist und die Angebote vergleicht. Dieser Anteil variiert jedoch erheblich. So zeigen sich folgende Unterschiede:

• Männer, ältere Versicherte, solche mit geringerem Bildungsstand und mit in der Vergangenheit diagnostizierter Depression sind weniger aufmerksam.

• Versicherte mit mittlerem Einkommen bilden die aufmerksamste Gruppe. Möglicherweise scheitert die Aufmerksamkeit von Geringverdienern an den nötigen Ressourcen und für Gutverdiener ist das Sparpotenzial ggf. nicht so bedeutsam.

• Wer häufig in ambulanter Behandlung war (nicht aber stationär), hat eine höhere Aufmerksamkeit.

• Bei der Erhöhung der Versicherungsprämie oder bestimmten Änderungen der Leistungen müssen die Versicherer ihre Kunden per Brief darauf hinweisen. Es zeigt sich, dass diese Briefe die Aufmerksamkeit stark fördern. Dies gilt insbesondere bei Prämienerhöhungen, aber auch bei für Kunden ungünstige Änderungen des Selbstbehaltes oder der Einschränkung bei den Medikamenten, die die Versicherung abdeckt.

• Selbst nach der Berücksichtigung dieser Faktoren findet sich zusätzlich eine individuell sehr stark unterschiedlich ausgeprägte Neigung zur Unaufmerksamkeit.

Selbst wenn die Aufmerksamkeitsschwelle überschritten ist, neigen die Versicherten dazu, bei ihrer bisherigen Versicherung zu bleiben. Den oben „Wechselkosten“ genannten Effekt können wir in Dollar umrechnen und kommen dabei auf durchschnittlich etwa 500 US-Dollar als geschätzte Wechselkosten, jedoch mit erheblichen Unterschieden zwischen den Versicherten.

FAZIT

Unaufmerksamkeit hat einen erheblichen Einfluss auf die geringen Wechselraten auf Märkten wie der analysierten Krankenversicherung. Ein Unternehmen, das Neukunden gewinnen möchte, muss also zunächst deren Aufmerksamkeit erregen, beispielsweise durch gezielte Marketingmaßnahmen. Wenn der Staat den Wettbewerb durch aktivere Kunden steigern möchte, muss auch er diese Unaufmerksamkeitshürde überwinden. Es reicht nicht, den Wechsel einfach zu gestalten. Vielmehr müssen die Konsumenten auch ihre Optionen kennen, vergleichen und aktiv Entscheidungen treffen.

Dieser Beitrag wurde auch im DICE Policy Brief veröffentlicht.

DICE PUBLIKATION

Florian Heiss, Daniel McFadden, Joachim Winter, Amelie Wuppermann, and Bo Zhou (2021), „Inattention and Switching Costs as Sources of Inertia in Medicare Part D”. American Economic Review, Vol. 111(9), 2737 – 2781.

Kategorie/n: DICE-Meldung, Forschungkompakt
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