Zum Inhalt springenZur Suche springen

Der Einfluss der Arbeitslosenversicherung auf die Arbeitssuche

Die finanzielle Absicherung von Arbeitslosen ist eine der wichtigsten Säulen moderner Sozialversicherungssysteme. Über die optimale Ausgestaltung der Arbeitslosenversicherung wird jedoch nach wie vor kontrovers diskutiert. Eine neue Studie legt dar, wie die Ausgestaltung der Arbeitslosenversicherung die Suche nach Wiederbeschäftigung und die Dauer der Arbeitslosigkeit betroffener Personen beeinflussen kann.

von Jun.-Prof. Dr. Andreas Lichter

Der Verlust des eigenen Arbeitsplatzes ist für viele Menschen ein einschneidendes Erlebnis und oftmals mit beträchtlichen monetären wie auch nicht-monetären Konsequenzen verbunden. Staatliche Arbeitslosenversicherungen dienen dann als wichtiges Sicherheitsnetz, welches Lohnausfälle zumindest teilweise über einen gewissen Zeitraum hinweg auffängt. Während daher das generelle Konzept einer Arbeitslosenversicherung als sinnvolles und wichtiges Politikinstrument der sozialen Absicherung anerkannt wird, wird die optimale Ausgestaltung der Arbeitslosenversicherung in Politik und Wissenschaft nach wie vor intensiv diskutiert. Dies zeigt sich unter anderem in den teils sehr unterschiedlichen Versicherungssystemen einzelner Länder, als auch in den fortlaufenden institutionellen Anpassungen der einzelnen Versicherungen. Allen Unterschieden und Änderungen liegt dabei letztlich ein einziger Konflikt zu Grunde: die Bereitstellung eines bestmöglichen Versicherungsschutzes bei möglichst geringen Fehlanreizen. Problematisch ist dieser Konflikt vor allem dadurch, dass die wichtigste Stellschraube in der konkreten Ausgestaltung der Arbeitslosenversicherung – die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes – einerseits den persönlichen und  volkswirtschaftlichen Wert der Arbeitslosenversicherung erhöht, andererseits aber den Anreiz zur intensiven Jobsuche mindert. Dies zeigen übereinstimmend verschiedene Studien aus beispielswiese Deutschland, den USA oder Frankreich – Länder mit sehr unterschiedlich ausgestalteten Versicherungssystemen. Eine Verlängerung der Bezugsdauer erhöht die Verweildauer in Arbeitslosigkeit substanziell.

Theoretisch kann dieser Effekt dadurch erklärt werden, dass Arbeitssuchende aufgrund längerer Versicherungsleistungen die Suche nach Wiederbeschäftigung reduzieren und/oder einen höheren Lohn für einen Wiedereinstieg ins Berufsleben fordern. Empirische Evidenz zu den beschriebenen Verhaltensanpassungen war bislang jedoch rar. Hier setzt unsere Studie mit dem Titel „Benefit Duration, Job Search Behavior and Re-employment” an. Wir untersuchen am Beispiel Deutschlands detailliert, wie eine Verlängerung der möglichen Bezugsdauer von Arbeitslosengeld den Suchaufwand nach Wiederbeschäftigung von Arbeitslosen und deren Reservationslohn – den Lohn, zu dem ein Arbeitnehmer gerade noch bereit ist zu arbeiten – beeinflusst. Erkenntnisse zu möglichen Effekten auf diese zwei Parameter individuellem Sucherverhaltens liefern dabei Aufschluss darüber, mit welchen konkreten Politikmaßnahmen ungewünschte Verhaltensanpassungen vermieden und Fehlanreize eines großzügigen Versicherungssystems reduziert oder ganz vermieden werden könnten.

Zur Bestimmung des Effektes der Arbeitslosenversicherung auf das Suchverhalten von Arbeitslosen betrachten wir im Konkreten die Verlängerung der möglichen Bezugsdauer von Arbeitslosengeld für ältere Arbeitslose (50+) in Deutschland seit dem 1. Januar 2008. Die Reform führte zu einer Erhöhung der Bezugsdauer für Arbeitssuchende im Alter von 50 – 54 Jahren von 12 auf 15 Monate, sowie für Arbeitssuchende im Alter von 58+ von 18 auf 24 Monate, falls wie hier, die Dauer der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung vor Arbeitslosigkeit über fünf Jahre betragen hat. Jüngere Arbeitslose waren hingegen nicht betroffen, ihre Bezugsdauer blieb konstant. Die Reform kam überraschend, sowohl für die Betroffenen als auch die allermeisten Politikerinnen und Politiker selbst. Sie war nicht im Koalitionsvertrag der damaligen Regierung vereinbart, und der Reformvorschlag durch Kurt Beck (SPD) am 1. Oktober 2007 traf nicht nur beim Koalitionspartner (der CDU/CSU), sondern auch innerhalb der eigenen Partei auf Gegenwehr. Politische Dynamiken führten letztlich aber dazu, dass die Anpassungen der Arbeitslosenversicherung bereits wenige Wochen später innerhalb der Koalition abgesegnet und bereits am 11. Dezember 2007 als Gesetzvorschlag in den Bundestag eingebracht wurden. Der Gesetzesentwurf wurde Mitte Januar 2008 verabschiedet und die Anpassungen rückwirkend zum 1. Januar 2008 in Kraft gesetzt.

Ein aus wissenschaftlicher Sicht glücklicher Zufall: Die beschriebene Reform fällt in den Erhebungszeitraum des IZA Evaluation Datasets, einer repräsentativen Befragung von Personen im Alter von 18 bis 54 Jahren, die sich im Zeitraum Juni 2007 bis Mai 2008 arbeitslos meldeten. Der Datensatz beinhaltet für jede befragte Person detaillierte Angaben zur eigenen Beschäftigungshistorie, dem Reservationslohn zum Zeitpunkt des Interviews sowie der Anzahl an Bewerbungen, die in den ersten 6 bis 10 Wochen der Arbeitslosigkeit verschickt wurden. In diesem Datensatz können folglich arbeitssuchende Personen im Alter von 50 – 54 Jahren vor und nach der Reform beobachtet werden.

Ein simpler Vorher-Nachher Vergleich des Suchverhaltens dieser Personen würde jedoch kaum den tatsächlichen Effekt der Reform darstellen. Arbeitssuchende im Alter von 50 – 54 Jahren, die in unserem Datensatz ein Anrecht auf Arbeitslosengeld über einen Zeitraum von 12 Monate haben, wurden im Sommer und Herbst 2007 arbeitslos, Personen im gleichen Alter, die ein Anrecht auf 15 Monate Arbeitslosengeld haben, im Winter und Frühling 2008. Der deutsche Arbeitsmarkt verzeichnet jedoch im Allgemeinen weniger Arbeitslose und mehr Stellenangebote in den Sommer- und Herbstmonaten als im Winter. Gleichzeitig sank die Arbeitslosigkeit in Deutschland aufgrund allgemeiner konjunktureller Erholung zwischen 2006 und 2009 von 12 auf 7 %. Es ist daher möglich, dass saisonale und konjunkturelle Unterschiede ebenfalls das Suchverhalten der beiden Gruppen beeinflussten, und somit den eigentlichen Effekt der Reform verwischen.

Um den kausalen Effekt der Reform der Arbeitslosenversicherung auf das Suchverhalten und die Dauer der Arbeitslosigkeit zu schätzen, nutzen wir daher den sogenannten Differenz-in-Differenzen (Diff-in-Diff) Ansatz. Dieser erlaubt es, den eigentlichen Effekt der Reform von saisonalen oder konjunkturellen Einflüssen zu trennen, indem eine zweite Gruppe arbeitsloser Personen betrachtet wird, die nicht von der Reform betroffen war. Arbeitslose die jünger als 50 Jahre waren, erhielten keine längere Bezugsdauer. In unserem empirischen Design vergleichen wir daher Veränderungen im Suchverhalten der betroffenen Gruppe an Arbeitslosen (der 50 – 54-Jährigen) vor und nach der Reform mit Veränderungen im Suchverhalten etwas jüngerer Arbeitsloser (45 – 49 Jahre), deren mögliche Bezugsdauer unberührt bei 12 Monaten verblieb, über den gleichen Zeitraum. Saisonale sowie konjunkturelle Unterschiede können nun herausgerechnet und ein kausaler Effekt geschätzt werden.

Abbildung 1 illustriert die Ergebnisse dieses Ansatzes. Betrachtet wird die Anzahl an Bewerbungen für die beiden Altersgruppen (50 – 54 Jahre vs. 45 – 49 Jahre) jeweils vor und nach der Reform. Panel A der Grafik zeigt, dass 50 – 54-jährige Arbeitslose nach der Reform deutlich weniger Bewerbungen abschickten als vor der Reform. Panel B verdeutlicht, dass dieser Rückgang vor allem auf die Reform selbst, und nicht auf saisonale oder konjunkturelle Faktoren zurückgeführt werden kann: die Anzahl an Bewerbungen der 45 – 49-Jährigen blieb über den betrachteten Zeitraum hinweg konstant. Quantitativ implizieren die Ergebnisse des Diff-in-Diff Ansatzes, dass jeder zusätzliche Monat Arbeitslosengeld den Suchaufwand betroffener Arbeitsloser um circa 10 % reduziert. Der Reservationslohn betroffener Personen ändert sich hingegen durch die beschriebene Politikmaßnahme nicht in messbarer Weise.

Im Einklang mit vorherigen Studienergebnissen kommen wir darüber hinaus zu dem Befund, dass die Verlängerung der möglichen Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes die Dauer der Arbeitslosigkeit betroffener Personen substanziell erhöhte. Interessanterweise zeigt sich hierbei jedoch, dass besonders Kurzzeitarbeitslose ihr Verhalten aufgrund der Reform änderten. Langzeitarbeitslose passten ihr Suchverhallten deutlich weniger an, profitierten aber gleichzeitig von der verlängerten Versicherungsleistung, die die Gefahr eines Falls in das soziale Sicherungssystem (Hartz-IV) minderte.

Die Erkenntnisse unserer Studie haben direkte Politikimplikationen. Zunächst zeigt sich, dass eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes dafür sorgen kann, dass substanziell weniger Personen in soziale Sicherungsleistungen fallen. Der individuelle als auch volkswirtschaftliche Nutzen einer großzügigen Versicherungsleistung zeigt sich hierbei explizit. Gleichzeitig führen großzügigere Versicherungsleistungen zu Fehlanreizen bei Personen, die erst relativ kurz arbeitslos sind. Wichtig erscheinen vor diesem Hintergrund folglich Politikmaßnahmen, die bereits zu Beginn der Arbeitslosigkeit das Suchverhalten von Arbeitssuchenden beobachten, effizient unterstützen und steuern. Eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien zeigt, dass solche Maßnahmen existieren und zu relativ niedrigen Kosten implementiert werden könnten. Eine großzügige Arbeitslosenversicherung bei geringen Fehlanreizen muss also kein Widerspruch bleiben. Es bedarf jedoch geeigneter Politikmaßnahmen, die das Grundgerüst der Arbeitslosenversicherung begleiten und stärken.

Dieser Beitrag wurde auch im DICE Policy Brief veröffentlicht.

DICE PUBLIKATION

Andreas Lichter & Amelie Schiprowski (2021): Benefit Duration, Job Search Behavior and Re-employment, Journal of Public Economics 193, Artikel 104326.

Kategorie/n: DICE-Meldung, Forschungkompakt
Verantwortlichkeit: